Forschungsverbund Desintegrationsprozesse

Forschungsverbund Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotenzialen einer modernen Gesellschaft

Laufzeit: Juni 2002 bis Dezember 2005

Die gegenwärtigen ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen in den westlichen Gesellschaften sind von unübersehbaren Ambivalenzen geprägt, deren zukünftige Richtung bisher nicht angemessen einzuschätzen ist. Soziale und politische Umbrüche im letzten Jahrzehnt und die damit einhergehenden Umstellungszumutungen haben zwar für zahlreiche Menschen neue Chancen eröffnet, gleichzeitig aber auch vielfältige neue sozioökonomische und politische Risiken (Desintegration durch Zugangsprobleme und mangelnde positionale Anerkennung, Teilnahmeprobleme, Sinnlosigkeitserfahrungen im politischen Alltag, abnehmende moralische Anerkennung immer exklusiverer Leistungs- und Verteilungsstrukturen sowie labile Gemeinschaftszugehörigkeiten mitsamt prekärer emotionaler Anerkennung) heraufbeschworen, welche die Integrationsproblematik moderner Gesellschaften verschärfen.

Nicht nur in Deutschland sind in den letzten Jahrzehnten sowohl Ideologien von Ungleichwertigkeit als auch dazugehörige menschenverachtende Gewalt deutlich hervorgetreten. Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit konnten vielfach zu Legitimationszwecken auf Stimmungen, Einstellungen und Haltungen in der Bevölkerung zurückgreifen und sind durch unbedachte Äußerungen von Politikern gestützt worden. Wenn damit auch das demokratische System nicht in seinem Bestand gefährdet ist, so erzeugen sie im Alltag doch ein Klima der Angst und der Verunsicherung. Die menschenverachtende Gewalt und rein repressive, häufig wenig durchdachte staatliche Maßnahmen werfen Fragen nach der Qualität der politischen Kultur, einer „demokratischen Atmosphäre“ und nach den Anforderungen und Bedingungen der Sicherung einer humanen und liberalen Republik auf.

Damit gehören nicht zuletzt auch wieder Fragen nach den Integrationspotenzialen moderner Gesellschaften ganz oben auf die gesellschaftspolitische Agenda. Die gegenwärtigen, sich in vielen Facetten ausdrückenden Desintegrationsprozesse in den westlichen Gesellschaften und die ihren gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohenden Gefährdungen haben zum Aufbau eines interdisziplinären Forschungsverbundes geführt, der vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld initiiert und konzeptionell moderiert wurde (Leitung: Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer; Koordination: PD Dr. Peter Imbusch) und den das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) insgesamt über vier Jahre gefördert hat. Ziel der im Rahmen dieses Programms intendierten Forschung war es, wichtige Erkenntnisse zu Integrationsproblemen moderner Gesellschaften beizusteuern und jenen Entwicklungen auf den Grund zu gehen, deren negative Folgen zentrale normative Kernelemente dieser Gesellschaft, insbesondere die Gleichwertigkeit von Menschen und Gewaltfreiheit, gefährden.

Die Identifikation problematischer Entwicklungsverläufe und die Beschreibung und Erklärung von Einflussfaktoren für die Stärkung der Integrationspotenziale dieser Gesellschaft wird auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Projektzusammenhängen thematisiert. Die einzelnen Projekte verfolgen nicht zuletzt das Ziel, zur Identifizierung von Maßnahmen zur Stärkung von Integrationspotenzialen moderner Gesellschaften beizutragen. Dazu sollten solche Prozesse genauer analysiert werden, die Desintegrationsängste bzw. -erfahrungen und Anerkennungszerfall erzeugen und individuelle oder kollektive „Reaktionen“ nach sich ziehen, die auf ethnische Homogenitätsvorstellungen, völkische Einheit, Ausschluss Fremder, Re-Integration in gewaltförmige peer groups etc. hinauslaufen und zerstörerische Potenziale für Gesellschaft und Demokratie in sich bergen.

Die einzelnen Projekte gruppieren sich um drei Themenschwerpunkte:

I. Langfristige und aktuelle Strukturprobleme (Makro-Ebene)

(P 1) Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität
Projektleiter: Prof. Dr. Helmut Thome, Universität Halle

(P 2) Prekäre Beschäftigungsverhältnisse
Projektleiter: Prof. Dr. Klaus Dörre, FIAB Recklinghausen / Universität Jena

II. Akteursgruppen und Kontexte (Meso-Ebene)

a) Deutungs-, Kontroll- und Mobilisierungsakteure

(P 3) Wirtschaftseliten und gesellschaftliche Verantwortung
Projektleiter: Prof. Dr. Dieter Rucht, WZB Berlin; PD Dr. Peter Imbusch, IKG, Universität Bielefeld

(P 4) Negative Klassifikationen
Projektleiter: Prof. Dr. Sieghard Neckel, Institut für Sozialforschung Frankfurt/M.

(P 5) Gruppenauseinandersetzungen Jugendlicher
Projektleiter: Prof. Dr. Roland Eckert, Universität Trier; Prof. Dr. Roland Roth, FH Magdeburg

(P 6) Repression und Reaktion rechtsextremer Gruppen
Projektleiter: Prof. Dr. Michael Minkenberg, Universität Frankfurt/Oder

b) Institutionelle und sozialräumliche Gelegenheitsstrukturen

(P 7) Repräsentation und politische Integration in der fragmentierten Stadt
Projektleiter: Prof. Dr. Hartmut Häußermann, Humboldt Universität Berlin

(P 8) Angstzonen in den neuen Bundesländern
Projektleiter: Prof. Dr. Werner Bergmann, Technische Universität Berlin

(P 9) Politische Orientierungen und Anerkennungsprozesse in Schulen
Projektleiter: Prof. Dr. Werner Helsper; Prof. Dr. Heinz-Hermann Krüger, beide Universität Halle

(P 10) Fremdenfeindlichkeit und ethnische Konflikte im Jugendstrafvollzug
Projektleiter: Prof. Dr. Wolfgang Kühnel, FHVR Berlin

(P 11) Assimilation und Integration im Fußballsport
Projektleiter: Prof. Dr. Hans-Georg Soeffner, Universität Konstanz

c) Desintegrierende Mobilisierungspotenziale

(P 12) EU-Osterweiterung und als Mobilisierungsschub für rechte Einstellungen?
Projektleiter: Prof. Dr. Klaus Boehnke, IU Bremen; Dr. Susanne Rippl, TU Chemnitz

(P 13) Islambilder in der multikulturellen Bevölkerung
Projektleiter: Prof. Dr. Rainer Dollase, Universität Bielefeld

III. Individuelle Lernprozesse und Verhaltensweisen (Mikro-Ebene)

(P 14) Fremdenfeindliche Diskriminierungen und interethnische Gewalt in benachteiligten Stadtteilen
Projektleiter: PD Dr. Helmut Willems, asw, Universität Trier

(P 15) Opfer rechtsextremer Gewalt
Projektleiter: Prof. Dr. Andreas W. Böttger, arpos Institut Hannover

(P 16) Anerkennung moralischer Normen
Projektleiterin: Prof. Dr. Nunner-Winkler, MPI München

(P 17) Ein- und Ausstiegsprozesse von Skinheads
Projektleiter: Prof. Dr. Kurt Möller, FH Esslingen

Nach einer einjährigen Vorlaufphase (2001) hat der Forschungsverbund, der über intensive Kooperations- und Konvergenzanstrengungen eine neue Qualität wissenschaftlicher Forschung anstrebte, schließlich seit Juni 2002 seine Arbeit aufgenommen und wird diese mit Ablauf des Jahres 2005 beenden. Seit Mitte 2004 gibt es jedoch ein ebenfalls vom BMBF für drei Jahre gefördertes Begleitforschungsprojekt zum Thema „Wissensaustausch“, welches den Transfer von Praxiswissen in die Wissenschaft und den wissenschaftlicher Ergebnisse des Forschungsverbundes in die Praxis untersucht. Dieses Projekt ragt bis Mitte 2007 über den eigentlichen Verbund hinaus.

Neben dem ursprünglichen Projektantrag und dem Bericht zur Zwischenbegutachtung wird Anfang 2006 auch der endgültige Abschlussbericht über den Forschungsverbund vorliegen. Die Ergebnisse der Einzelprojekte werden sukzessive in der Reihe „Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration“ im VS-Verlag für Sozialwissenschaften in Wiesbaden erscheinen. Eröffnet wird die Reihe mit dem Band „Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft“, herausgegeben von Wilhelm Heitmeyer und Peter Imbusch, sowie mit einem Reader zu Problemen gesellschaftlicher Integration und Desintegration. Neben den Ergebnisbänden der Einzelprojekte liegen zudem seitens der einzelnen Projekte bereits jetzt eine Reihe von Publikationen aus dem Kontext des Forschungsverbundes vor.

Weitere Informationen über den Forschungsverbund und seine Ergebnisse bekommen Sie entweder über das IKG (www.uni-bielefeld.de/ikg/projekt_integrationspotenziale.htm) oder über www.soziale-desintegration.de, bei der Leitung bzw. der Koordinationsstelle des Forschungsverbundes und natürlich bei den Projektleitern der einzelnen Projekte.